Schon Konfuzius lehrte in seiner Sozialethik, daß die Familie die Grund- und Idealform der menschlichen Gemeinschaft beschreibt und alle Familienmitglieder dem Vater Gehorsam schulden. Nach konfuzianistischer Auffassung ist der Mensch niemals isoliert, sondern steht in einem Geflecht sozialer Beziehungen. Sein individuelles Streben kann nur so weit gehen, wie Harmonie mit der sozialen Ordnung besteht. In Japan wurde im Mittelalter der aus China übernommene Konfuzianismus von den Herrschenden zur Stabilisierung ihrer Herrschaft modifiziert.
Nach Doi bedeutet amae die Geborgenheit des Einzelnen in einer Gruppe. Japaner streben bedingt durch ihre Sozialisation nach der emotionalen Einbindung in Gruppen und streben weniger danach, aus ihnen herauszuragen, als deren Ansehen zu fördern. Diese "Konformität" wird nicht durch Bestrafung, sondern durch sozialen Druck (z.B. durch Ausgrenzung aus der Gruppe) erreicht. Die Gruppe dient dem Einzelnen als Verhaltensmaßstab, in dessen Rahmen er sich persöhnlich entfalten kann.
Das ie war traditionell ein geschlossener, bäuerlicher Haushalt. Der enge Zusammenhalt kann außer duch die konfuzianistische Ethik noch durch die räumliche Enge und der nötigen gegenseitigen Hilfe z.B. beim Reisanbau und nach den häufigen Naturkatastrophen begründet werden. Die "gute Art und die schönen Sitten" (jumpú bizoku) der traditionellen Familiensysteme lassen sich durch vier Merkmale zusammenfassend beschreiben:
Diese rechtlich niedergelegten Prinzipien des ie wurden den Japanern in ihrer Sozialisation, z.B. in der schulischen Morallehre, initiiert. Sie wurden auf Herrschaftsstruktur des Staates übertragen, um ein Autoritätsbewußtsein gegenüber der Obrigkeit zu erwirken. Um den "blinden Gehorsam" der Japaner gegenüber dem Staat zu brechen, wurden diese Aspekte vom alliierten Besatzungskommando (SCAP) aus den Gesetzen gestrichen und die Gleichberechtigung aller Individuen nach amerikanischem Vorbild verankert.
Die Tradition des ie wurde auf die japanischen Unternehmen übertragen (Firmengemeinschaft) und durch eine feingestaffelte Rangordnung fortsetzt, welche zur Entschärfung von Konflikten sorgt. Den Arbeitnehmern wird innerhalb der Unternehmen, in ihren Abteilungen, "durch eine kompliziert ausbalancierte Kombination von lebenslanger Anstellung und Senioritätsprinzip bei der Entlohnung ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und der sozialen Sicherheit vemittelt."
Nach dem Krieg wurde durch das SCAP das Schul- und Bildungssystem nach amerikanischen Vorbild neugestaltet. Die Schulpflicht wurde auf neun Jahre erhöht. Nach dem drei-jährigen Besuch der Oberschule besteht durch eine Aufnahmeexamen die Möglichkeit zum Besuch einer Hochschule. Zwischen den Schulen und den Universitäten besteht jeweils eine Rangfolge, deren Besuch ausschlaggebend für den späteren Arbeitgeber und somit über die künftige Stellung in der Gesellschaft ist. Aus diesem Grunde sind Aufnahme- wichtiger als Abschlußprüfungen. Zusätzlich zur Schule besuchen viele Schüler sogenannte Pauk- und Ferienschulen. Ein größerer Wert als auf das Erarbeiten eigener Standpunkte wird auf das Lernen selbst - das "Funktionieren in der Gruppe" - gelegt.
Nach dem Krieg konnten die japanischen Schulen und Universitäten ihren Absolventen nicht eine ausreichende Vorbereitung auf die Anfordernisse der modernen Technik vermitteln. Eine öffentliche Normierung der Berufsausbildung, wie durch das duale Ausbildungssystem in Deutschland, ist so in Japan nicht vorhanden. Die Arbeitnehmer treten als "Rohmaterial" ins Unternehmen ein und erhalten - unabhängig von ihrer Vorbildung - eine fachliche betriebsspezifische Ausbildung durch learning on the job und job-rotation. Sie sind i.d.R. Beschäftigte der Unternehmung ohne im Arbeitsvertrag exakt beschriebene Stellenbeschreibungen. Von den Beschäftigten wird neben sozialen Fähigkeiten hohe Flexibilität erwartet, damit sie sich den jeweiligen betrieblichen Erfordernissen anpassen können.
Die Auflösung und die Entflechtung der zaibatsu, mächtiger (Familien-)Konzerne der Vorkriegszeit, wurde nach dem 2. Weltkrieg nicht konsequent von der SCAP durchgeführt. Sie bildeten sich bald wieder als lockere Verbindungen. Die Wirtschaft Japans wird zu einem nicht unerheblichen Teil von diesen Unternehmensnetzwerken, den sogenannden keiretsu, dominiert. Sie bestehen aus einem Netzwerk von Unternehmen, die vertikal und auch horizontal durch Minderbeteiligungen verbunden sind. Die wichtigste Vertreter treffen sich zu regelmäßigen informellen Gesprächen (Präsidentenclubs, kais). Im Mittelpunkt der keiretsu befindet sich i.d.R. eine Bank, eine Versicherung und ein Generalhandelshaus. Zwischen den Mitgliedsunternehmen findet eine enge Zusammenarbeit, z.B. durch den Austausch von Personal und Technologie, statt.
Über 80 % aller japanischer Arbeitnehmer arbeiten aber in Klein- und Mittelbetrieben (KMU). Die Großunternehmen haben sich heute häufig auf die Kerntätigkeiten (z.B. Endmontage) spezialisiert und z.T. Produduktion und Service nach "außen" verlagert (Outsourcing). Die Großunternehmen stützen sich auf eine Netz von kleineren Unternehmen, die in unterschiedlichen Stufen als Zulieferer, Zwischenhändler oder Serviceleister fungieren. Die Zulieferer arbeiten intensiv mit den Produzenten in der Produktion (Just-in-Time), in der Ausbildung und in der Konstruktion zusammen. Ein Vergleich der Anzahl oder der Umsätze bzw. der Wertschöpfung dieser Betriebe in Japan mit denen in Deutschland zeigt, daß deren Anteil an der Gesamtwirtschaft in Japan weitaus bedeutender ist.
In der japanischen Wirtschaft kann neben der Unternehmensgröße auch bei den Arbeitsbeziehungen von einer dualen Struktur gesprochen werden: In den Groß- und z.T. auch in mittleren Unternehmen kann zwischen der privilegierten Kern- und der Randbelegschaft unterschieden werden.
Die Mitglieder der Kernbelegschaft (Stamm-) werden i.d.R. direkt von den Universitäten rekrutiert (80%) und erhalten unbefristete Arbeitsverträge, d.h. sie bleiben unter normalen Umständen bis zum unternehmensspezifischen Pensionsalter (teinen) im Betrieb (keine Garantie einer lebenslangen Beschäftigung in vertraglichen Form). Durch die langfristige Bindung investieren die Unternehmen mehr in die Ausbildung diese Humankapitals. Etwa ein Drittel der japanischen Arbeitnehmer hat eine solche Beschäftigungsgarantie in einem größeren Unternehmen oder beim Staat. Das Einstiegsentgeld ist in der Regel relativ niedrig, steigt jedoch mit zunehmender Betriebszugehörigkeit. Begründet wird dies u.a. mit der Erweiterung seiner Fähigkeiten. Zudem erhalten die Arbeitnehmer zweimal im Jahr eine Bonuszahlung und einen mit den Jahren der Betriebszugehörigkeit anwachsenden Abfindungsbetrag. Der Stammbelegschaft werden - um die Loyalität zu sichern - zahlreiche Nebenleistungen, wie Zusatzversicherungen und Werkswohnungen, zuteil. Auch die Karrierre ist von der Beschäftigungsdauer abhängig. Ausschlaggebend für die Annahme einer Arbeit ist aus diesen Gründen nicht das Anfangsgehalt, sondern das lebenslange Anstellungsverhältnis und das Prestige der Unternehmung.
Da die Kernbelegschaft während Krisenzeiten nicht entlassen werden soll ist eine sogenannte Randbelegschaft nötigt. Die periphere Beschäftigung mit einem geringeren sozialen Status umfaßt temporäre Beschäftigungsverhältnisse (u.a. Teilzeitarbeit), Heimarbeit, Subkontraktarbeit und Leiharbeit. Sie werden i.d.R. nur angelernt und erhalten einen leistungsbezogenen Lohn, der selten mit der Betriebszugehörigkeit anwächst; Bonuszahlungen und Nebenleistungen sind stark eingeschränkt. Der Frauenanteil ist überproportional groß, da nach dem traditionellen Rollenverständnis auch heute noch davon ausgegangen wird, daß Frauen mit Mitte Zwanzig heiraten und aus dem Berufsleben ausscheiden bis sie mit Ende Dreissig eventuell wieder eine Teilzeitarbeit aufnehmen.
Eine andere Gruppe der irregulären Beschäftigten, die nach offizieller Statistik 3,5% der Erwerbstätigen ausmachen (60% Frauen), sind die Tagelöhner (hiyatoi) am untersten Ende der Lohnskala. Sie werden für einem Tag bis zu einem Monat z.B. in Kleinbetrieben des Baugewerbes und im Dienstleistungsgewerbe beschäftigt. Charakteristische Merkmale sind unregelmäßige manuelle Arbeit, häufige Wohnortwechsel und geringe Zukunftsperspektiven. Außerdem spielen illegale ausländische Beschäftigte und bei der Arbeitsvermittlung die japanische Mafia (yakuza) bei den hiyatoi eine Rolle.
Anstelle von landesweiten, sektorbezogene Gewerkschaften gibt es in Japan Unternehmens- oder Betriebsgewerkschaften. Mitglieder dieser Gewerkschaften können i.d.R. - häufig Einstellung - nur die Mitglieder der Stammbelegschaft werden. Funktionäre der Unternehmensgewerkschaften sind häufig aus dem mittleren Management und erhalten nach gewerkschaftlichen Tätigkeit den Platz in der Betriebshierarchie, welchen sie durch die altersbedingte Beförderung sonst erreicht hätten. Aus diesen Gründen besteht ein anderes Klima zwischen den Tarifpartnern und die Gewerkschaften handeln stärker im Interesse der Unternehmen. Sie ermöglichen die Abschlüsse flexibler Tarifverträge, welche der wirtschaftlichen Situation der Unternehmung anpaßt sind.
Die japanischen Gewerkschaften festigen die beschriebene Dualität, da nur ein geringer Teil der Erwerbstätigen - die ohnehin schon Priviligierten - von den Gewerkschaften vertreten werden. Die Randbelegschaften und die der kleineren Unternehmen, welche geringe (soziale) Leistungen erhalten und aus diesem Grunde lohnpolitische Hilfe benötigen, werden von Gewerkschaften und Staat vernachlässigt. Die Gewerkschaften unterstützen vielmehr die flexible unternehmerische Beschäftigungspolitik mit der Randbelegschaft, da dadurch die Stellung der Stammarbeiter stabilisiert wird.
In der meiji-Zeit (1868-1912) wurde eine Minimalversorgung der sozial Schwächsten und einzelne Versicherungssysteme auf Gegenseitigkeit in den Musterfabriken der Regierung eingeführt. 1938 wurde aus der Abteilung für Soziales des Innenministeriums das Ministerium für Gesundheit und Soziales (kóseisho) errichtet.
In der amerikanischen Besatzungszeit (1945-51) nach dem zweiten Weltkrieges verankerte das SCAP die Ideen der staatlichen Sozialpolitik, der Sicherung des Lebensstandarts und der Gleichbehandlung in der Gesetzgebung. In der japanischen Verfassung vom 3.1.1946 manifestiert sich der Grundsatz einer sozialen Versorgung im Artikel 25:
"(1) Jeder Bürger hat
das Recht auf ein Mindestmaß an gesundem und kultiviertem Leben.
(2) Der Staat hat sich
auf allen Gebieten des Lebens um die Entwicklung und Hebung des sozialen
Wohls, der sozialen Sicherheit und der allgemeinen Gesundheit zu bemühen."
Nach einem Urteil des Obersten Gerichtshofes von 1967 beinhalte der Artikel keinen subjektiven Rechtsanspruch Einzelner auf bestimmte Leistungen, sondern läßt dem Gesetzgeber für zukünftige Gesetzgebung ein Gestaltungsspielraum, der nicht mißbraucht werden dürfe. Das SCAP initiierte ein allgemeines Sozialhilfeprogramm (kóteki fugó), welches die Gewährleistung einer sozialen Unterstützung sichern sollte. Im Gesetz zur Sicherung des Lebensunterhaltes (seikatsu hogohó) von 1946 wurde eine Klausel eingeführt, welche "den generellen rechtlichen Anspruch auf Sozialhilfe insofern einschränkt, als eine gewisse finanzielle Mitverantwortung der Familie [...] beibehalten wurde."
Rechtliche Entwicklung der sozialen Sicherung in Japan | |
1874 | Armenverordnung |
1922 | Krankenversicherungssystem für Arbeiter, das die verschiedenen privaten betrieblichen "Krankenkassen auf Gegenseitigkeit" integrierte und vereinheitlichte. Wegen der Folgen des großen Kantó-Erdbebens 1923 erst 1927 in Kraft getreten. |
1938 | Errichtung des Ministeriums für Gesundheit und Soziales.
Erweiterung der Krankenversicherung auf Selbstständige (Land- und Forstwirtschaft, Fischereiwesen). |
1939 | Einführung der Seeleute-Versicherung, die die als erste Rentenversicherung enthält. |
1941 | Allgemeine Rentenversicherung für Arbeiter. |
1944 | Ausweitung der Arbeiterrentenversicherung auf die Angestellten |
Zur Umsetzung von Artikel 25 der japanischen Verfassung in geltendes Recht werden in mehreren Bereichen Gesetze reformiert bzw. neu erlassen: Verankerung des Rechts auf Sozialhilfe; Einführung der Arbeitslosenversicherung; Konsolidierung der verschiedenen betrieblichen Unfallversicherungssysteme. | |
1948 | Behindertengesetz. |
1951 | Gesetz der sozialen Dienste. |
1953 | Einführung der Krankenversicherung für Tagelöhner. |
1954 | Reform der Angestellten-Rentenversicherung. |
1959 | Erweiterung der Krankenversicherung und der Rentenversicherung auf die gesamte Nation, tritt ab 1961 in Kraft. |
1969 | Freie medizinische Versorgung für Alte in Tokyó wird eingeführt. |
1972 | Einführung eines allgemeinen Kindergeldes ab dem 2. Kind. |
1973 | Einführung des Systems der freien medizinischen Versorgung für Alte auf nationaler Ebene. |
1975 | Reform der Arbeitslosenversicherung |
1983 | Rechtliche Verankerung der freien medizinischen Versorgung für Alte, die jedoch gleichzeitig eine geringe Selbstbeteiligung wiedereinführt. |
1984 | Reform der Krankenversicherung und Wiedereinführung von Selbstbeteiligung. |
1986 | Grundlegende Reform und Neu-Strukturierung der verschiedenen Rentensysteme mit Einführung einer Modellrente tritt in Kraft. |
1992 | Gesetz über den Erziehungsurlaub für Eltern. |
1993 | Vorbereitung für ein Gesetz zum Pflegeurlaub. |
Tabelle 9: Übersicht über die Geschichte der sozialen Sicherung und der sozialen Dienste in Japan.
In den fünfziger Jahren begann eine wirtschaftliche Expansion mit durchgehend zweistelligen Zuwachsraten. Für die konservative Regierung war das Wirtschaftswachstum das vorrangige Ziel. Durch das stetige Wirtschaftswachstum sollte auch der Lebensstandart des Einzelnen automatisch ansteigen ("Einkommensverdoppelung", Shutoku Baizó).
Ende der 60er hatte Japans Wirtschaft den Anschluß an die Industriestaaten erlangt. Das Interesse von Öffentlichkeit und Politik richtete sich auf den Ausbau des Wohlstandes und der sozialen Sicherheit der Bevölkerung. Bisher hatte das System der sozialen Sicherung nur die drängensten Probleme gelindert. Nun sollte sich Japan zum Wohlfahrtsstaat nach europäischen Vorbild wandeln: 1973 wurde zum "Jahr Eins der Wohlfahrt" (fukushi gannen) ausgerufen.
Das Jahr Eins der Wohlfahrt war zugleich das Jahr der ersten Ölkrise und das Wirtschaftswachstum schwächte sich drastisch ab. Da die Sozialleistungen gleichzeitig aber erhöht wurden, stiegen die Belastung an und ein Staatsdefizit entstand. Die sozialpolitische Thematik geriet wieder in den Hintergrund und ökonomische Probleme bestimmten die Politik. Unter dem Schlagwort "japanisches Modell der Wohlstandsgesellschaft" wurde Abstand vom allumfassenden Wohlfahrtsstaat genommen. Ideelle Zielvorgaben von typisch japanischen Tugenden, wie die größere Verantwortung des Einzelnen, der Familie und der lokalen Gemeinschaften, wurden proklamiert. Die sozialen Ausgaben wurden gekürzt. Z.B. wurde die freie medizinische Versorgung alter Leute eingeschränkt (1983) und der Eigenanteil der Nationalen Krankenversicherung erhöht (1984).